Walk on the Wild Side
TEXT: Günter Kast
FOTOS: Churchill Wild, Günter Kast, Adobe Stock
Die meisten Menschen überkommen spontan Fluchtreflexe, wenn sie einen Eisbären in freier Wildbahn vor sich haben. Bei den Touren von Churchill Wild im Norden Manitobas suchen abenteuerlustige Naturen bewusst die Nähe des größten Landraubtiers der Erde – und zwar zu Fuß.
Eigentlich ganz süß: diese dunklen Knopfaugen; die kleinen, rundlichen Ohren; das schmutzig-weiße, in der Morgensonne glänzende Fell. Man könnte glatt vergessen, dass da zwischen uns und dem Chef der Nahrungskette nur läppische 45 Meter arktisch kalte Luft sind. Doch jetzt dreht sich der Eisbären-Mann zu uns um, richtet sich auf. Geschätzt 600 Kilo Lebendgewicht nehmen Witterung auf, blicken uns direkt an: Tatzen wie Bratpfannen mit fleischerhakengroßen Klauen, der Kiefer mit 42 scharfen Zähnen bewaffnet. Das größte Landraubtier der Erde geht mit gesenktem Kopf einige Schritte auf uns zu. Noch 40 Meter. Guide Terry Elliott nimmt das Gewehr von der Schulter, greift mit der anderen Hand an den Gürtelholster mit dem Pfefferspray. Mit ruhiger, aber fester Stimme ruft er: „Hey Bär, schöner Tag heute, nicht wahr?“ Hinter Terry stehen 14 Touristen. Sie sind mucksmäuschenstill, aber ihre Kameras feuern, was das Zeug hält. Es sind nur noch 35 Meter, als der Bär abdreht und langsam zurück Richtung Hudson Bay trottet.
Die Anspannung fällt ab, alle plappern wild durcheinander. Der Einzige, der nicht überrascht zu sein scheint, dass uns der Bär nicht fressen wollte, ist Terry. „Ich hatte an die 1.000 Begegnungen mit den weißen Riesen und musste noch nie einen erschießen.
Man muss ihnen nur Raum geben, ihre Privatsphäre respektieren – nicht anders als bei Menschen.“ Meist reiche das Anheben der Stimme aus, um aufdringliche Bären zu stoppen. Hilft das nicht, werfe er kleine Steinchen in deren Richtung. „Nur selten musste ich eine Heulrakete abfeuern. Sie mögen keinen Lärm.“ Terry räumt aber ein, dass es schon ungewöhnlich sei, zu Fuß auf diese Raubtiere zuzumarschieren, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen: „In Churchill gibt es Leute, die seit vielen Jahren nur darauf warten, dass es zu einem Unfall kommt.“
Churchill – dort waren wir gestern gelandet, aus Winnipeg kommend, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Manitoba. Das Nest« (…)
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