WINTERBESTEIGUNG GROSSGLOCKNE
Eiskalt nach oben. Der Großglockner (3798 m) ist Österreichs höchster Berg. Die Winterbesteigung ein ganz besonderer Genuss. Autor Tom Dauer verbindet das außergewöhnliche Erlebnis mit der Geschichte des Berges und der Bergführerei.
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TEXT: Tom Dauer / FOTOS: Moritz Attenberger
Sein Gast wähnt sich vermutlich sicher. Vor einem Absturz bewahrt durch das orangene Seil, das ihn mit Michael Amraser verbindet. Der Bergführer dagegen gibt sich keiner Illusion hin. Darf er auch nicht. Er kennt ja die Statistiken,die den Aufstieg am kurzen Seil – ein Meter zwischen ihm und dem Gast – als eine der gefährlichsten Führungsmethoden aus weisen. Immer wieder verunglücken Bergführer in Eisflanken und auf Graten, mit gerissen von denen, die ihnen ihr Leben anvertrauen. Amraser weiß, dass ein Sturz seines Gastes in die Katastrophe führen würde. Dann risse der Unsichere den Erfahrenen mit, und im Seil gefangen, über einander fallend, sich überschlagend stürzte die Seilschaft die steile Eisrinne hinab, das »Glocknerleitl«, hinunter zum »Bahnhof«, wo das flacher werdende Relief das Menschenknäuel bremsen würde, viel leicht, mit viel Glück.
Dennoch wählt Amraser, wenn er auf den Großglockner steigt, immer wieder das kurze Seil, mit dem Bergführer und Gast gleichzeitig gehen. Es gibt keine Alternative: Jeden Meter zu sichern, Standplätze zu bauen würde viel zu lange dauern – zumal im Winter, wenn die Tage kurz sind. Das Seil weglassen? Dann bräuchte es auch den Bergführer nicht. Nein, Amraser ist gut trainiert und in jeder Sekunde aufmerksam: Um reflexartig reagieren und das Seil straffen zu können, sobald der Gast zögert, stolpert oder ein Tritt unter den Steigeisen zerbröselt. So kann er den Mann halten, bevor dieser den Stand verliert.
Seit gut zehn Jahren macht der 34Jährige das so, und es ist immer gut gegangen. Nicht weil er das kurze Seil besonders mögen würde oder weil er damit das Sturz risiko ausschließen könnte. Sondern weil das Seil dem Gast Sicherheit gibt. Und er dank dieses Vertrauens tatsächlich sicherer steigt. Schließlich steht das Seil wie kein anderes Ausrüstungsstück für den Beruf des Bergführers. Für Erfahrung und Können, Fürsorge und Hilfsbereitschaft und für die Autorität zu entscheiden, was geht und was nicht. Einen Tag zuvor, es ist Spätnachmittag, Anfang April, und feuchte, zu Nebelschleiern geronnene Luft wabert durch das Ködnitztal, als wäre es ein Dampf bad. Braune Wiesenflecken und frische Lawinenkegel zeigen an, dass sich der Winter ins Hochgebirge zurückzieht. Ruhe herrscht, kein Vogelzwitschern, kein Motorheulen, keine plappernden Wanderer. Nur das leise Klackklack der Skitourenbindungen zerpflügt die Stille, und das Gleiten …