SCHARF AM ABGRUND

Lose Steine, große Lücken, wacklige Stahlträger. Mit den Jahren ist aus dem Königsweg eine bodenlose Frechheit geworden. Der Caminito del Rey in Spanien ist der gefährlichste Klettersteig der Welt.

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TEXT: MICHAEL SCHOPHAUS / FOTOS: FOREST WOODWARD

Es gibt für Bergsteiger viele Möglichkeiten, ihren Mut zu beweisen. Sie können sich in Wände hängen, die steil wie die Fassaden eines stattlichen Wolkenkratzers sind. Oder daseinsmüde über Wege klettern, die den Namen Weg nicht mehr verdienen, weil sie schmal wie ein Handtuch sind und glatt wie ein Stück Seife. So ein Weg ist der Caminito del Rey in Südspanien. Er gilt als gefährlichster Klettersteig der Welt, und wenn man sich wirklich auf ihn wagt, sollte man vorher eine verdammt gute Lebensversicherung abschließen.

Was ihn so mordsmäßig reizvoll macht, ist sein erbärmliches Gerippe, das sich in zweihundert Meter Höhe in die brüchigen Kalkfelsen krallt. Vor über hundert Jahren wurde darauf Baumaterial für das Wasserkraftwerk eines Staudamms befördert, der sich hinter den Bergen  befindet. Jetzt wird er nur noch von rostigen Stahlträgern, na ja, zusammengehalten, und die Betonplatten darauf haben mehr Löcher als ein Schweizer Käse.


Gerade deshalb ist dieser verrückte Schwindel sehr beliebt. Denn dafür, dass der ehemalige Versorgungsweg seit vierzehn Jahren offziell gesperrt ist, weil drei junge Kletterer für immer einen Ab-gang machten, ist dort wirklich viel los. Ein Verbot sorgt ja bekanntlich erst für den wahren Kitzel, den manche Gipfelstürmer brauchen, damit ihnen gefälligst das Adrenalin in die Blutbahnen schießt. Doch sollten Verbote wirklich irgendwie sinnvoll sein, dann ganz bestimmt bei dieser an den Nerven zerrenden Versuchung, die seit Jahrzehnten über der Schlucht von El Chorro lockt und immer weiter in die Tiefe bröselt. Die Zeit hat ganze Arbeit geleistet, kein Schritt ist sicher. Platten, die sich plötzlich lösen. Eisen, das aus dem Sandstein bricht. Aber keiner, der trotzdem dort herumkraxelt, ist um eine schöne Ausrede verlegen. »Ich hatte nur Filme über den Weg gesehen und musste unbedingt hin«, sagt zum Beispiel Tim aus München. Und sein Freund Malte meint: »Wenn du da oben stehst, haut dich die Natur einfach um.« (…)