Himmelfahrt Himalaya

Text & Fotos: Felix Müller
Etwas Größenwahn, ein alter Kleinbus und die höchsten Straßen dieser Welt: Statt Direktflug entscheiden sich zwei Freunde für den epischsten Umweg aller Zeiten und geraten zwischen Hochplateaus, Dieselruß und Dalai-Lama in eine Odyssee aus Wunder und Wahnsinn.
Motor und Lungen ringen um Luft, als wir uns auf 5.300 Metern an überladenen Trucks und senkrechten Abgründen vorbeischlängeln. Finger und Gesicht kribbeln in Schüben, jede Pinkelpause fühlt sich an, wie ein Treppenlauf in den fünften Stock. In Krankenhäusern wird unter 92 % Blutsauerstoff beatmet. Als eine reisende Ärztin vor einigen Stunden meinen Wert auf 85 % misst, gibt sie uns einen Zylinder Notfall-Sauerstoff sowie ein Döschen Riechsalz mit und wünscht viel Glück – schließlich folgen 2.000 weitere Höhenmeter.
Der Manali-Leh-Highway ist eine sagen- umwobene Strecke, die den nördlichsten Zipfel Indiens über fünf der höchsten befahrbaren Pässe der Welt mit dem Rest des Subkontinents verbindet. Natürlich könnte man einfach ein Flugticket kaufen und sich ins Ziel tragen lassen. Man kann sich aber auch bei Bremen in einen untermotorisierten Kleinbus setzen, einen Schlenker über den Bosporus machen, durch Irak, Iran, Pakistan fahren und die Sache einfach selbst in die Hand nehmen. Phillip und ich, beste Freunde seit der Schulzeit, entscheiden uns für Letzteres. Obwohl, einen richtigen Plan hatten wir eigentlich nie.
2016 kam ich von einem Auslandssemester aus Indien zurück und während ich Phillip, bei dem man damals froh sein konnte, wenn er mal das Sofa verließ, von der Heimat ganz zu schweigen, mit Händen und Füßen versuchte zu erklären, welche fiebertraumartige Realitätsklatsche ich da gerade hinter mir hatte, wurde mir klar: Indien will nicht erklärt, sondern erlebt werden. Aus Abenteuerlust, Bastelfreude und Schutz vor dem Kulturschock entscheiden wir uns damals für den Landweg: gemütlich einen Bus umbauen, dann im Schneckentempo durch die Wildnis gurken und es uns gut gehen lassen. Aber da hatten wir die Rechnung noch ohne den Faktor Realität gemacht. Schwere Erdbeben, bewaffnete Eskorten, Spionage- verdacht und Dieselknappheit – mittlerweile wissen wir, warum die Hippies nach diesem Trip erstmal in Goa entspannen mussten.
Nach genau sechs Monaten Reise finden wir uns kurz hinter der Pakistanischen Grenze im indischen Amritsar wieder. Fast vier Wochen lang fahren wir durch den mittleren Norden bis wir uns fragen, wer eigentlich die bescheuerte Idee hatte, einen der bevölkerungsreichsten und heißesten Orte der Welt in einem Wohnmobil ohne Klimaanlage zu bereisen. Tagsüber heizt sich der Bus auf fast 50°C auf, die kindliche Neugier der indischen Bevölkerung erstickt jedes Verlangen nach Privatsphäre im Keim und wenn man es geschafft hat, trotz 30°C nächtlicher Resttemperatur im Bus einzuschlafen, kann man sich sicher sein, dass irgendwo da draußen ein mitteilungsfreudiger Autofahrer darauf wartet, einen früher oder später aus den Träumen zu hupen. Als wir uns im ländlichen Umfeld Delhis einige Tage bei einer Kletter-Community niederlassen und über unser Leid klagen, schauen wir in verdutzte Gesichter. Kurze Zeit später sitzen wir im Bus auf einer Straße Richtung Norden. Auf dem Armaturenbrett liegt ein kleiner, handgeschriebener Zettel: Chandigarh – Manali – Leh. Hoch oben, im nordindischen Himalaya, wollen wir finden, wonach wir suchen.
Wir überspringen Chandigarh und entspannen zwei Wochen im grasgrünen Manali bis wir uns ins entlegene Leh aufmachen. Vor uns liegen etwa 450 km Strecke und einige der höchsten und abenteuerlichsten Pässe der Welt: Baralacha La (4850 m), Nakki La (4739 m), Lachulung La (5059 m) und Tag lang La (5328 m). Bis vor einigen Jahren musste man für die Route auch noch den Rohtang La überqueren. Wir sind nicht böse drum, dass dieser Teil der Strecke, dessen verheißungsvoller Name aus dem Hindi übersetzt „Leichenberg“ bedeutet, seit 2020 durch einen Tunnel überflüssig gemacht wurde. Zwar spart man durch den Ata- Tunnel nur rund 45 Kilometer Wegstrecke, dafür aber bis zu zehn Stunden Fahrtzeit – und etwa zwei bis drei Nahtoderfahrungen. Als wir nach einem Übernachtungsstopp in Jispa, dem letzten Dorf vor dem ersten Berg, aufwachen, blicke ich in zwei verquollene Augen. Es ist 5 Uhr morgens, die Nacht war unruhig und wir haben kaum geschlafen. Egal, das wird jetzt durchgezogen! Der Berg ruft, oder wie war das? Pipi raus, Kaffee rein, Motor an. Die Sonne geht auf, wir fahren ihr entgegen – immer weiter Richtung Himmel. Nach den ersten Serpentinen macht sichbereits die Höhe bemerkbar. Hände und Gesicht fangen an zu kribbeln, ….