FLOW-SAUSE IN „PICCOLO-TIBET“

Im italienischen Hochtal Livigno können sich sportliche Mountainbiker neuerdings per Helikopter auf 3000er-Gipfeln absetzen lassen. Das gefällt nicht jedem, passt aber zur Unabhängigkeit, die diese Region in den lombardischen Alpen seit Jahrhunderten prägt

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TEXT: Stefan Ruzas / FOTOS: Sebastian StiphoutD

Manche nennen Livigno ja heute noch »Piccolo Tibet«, also Klein Tibet. Bis 1952 war der 1816 Meter hohe Talort im Norden Italiens nämlich komplett von der Außenwelt abgeschnitten, sobald der erste Schnee gefallen war. Weil es bis dahin vom Engadin und von Bormio aus nichts als zwei Passstraßen gab und erst dann einen verlässlicheren Tunnel. Wohl auch deswegen verheißt dieses Hochtal in den lombardischen Alpen seit Jahrhunderten die ganz große Freiheit und Eigenständigkeit. Seit knapp tausend Jahren stets bewohnt. Eine zollfreie Zone seit 1805, weil Napoleon es so wollte. Was bis heute zur Folge hat, dass Tankstellen und Handel deutlich günstiger sind als im sonstigen Stiefelland. Ja, mit Livigno und seinen 6500 Einwohnern geht, was woanders meist unmöglich scheint: Weil es zum Beispiel eine eigene Lawinenkommission gibt, finden nur hier Freerider im Winter eine Ausnahme vom in Italien gültigen Off-Piste-Verbot.

Seit vergangenem Jahr kann man nun sogar Heli-Biken. Es ist das Gegenstück zum winterlichen Heli-Skiing. Anstatt mit Skiern werden sportliche Abenteurer mit ihren Bikes per Helikopter auf einen Berg geflogen, um dann downhill zu fahren. So wie sonst nur in Kanada, Nepal, Island oder Neuseeland. Oder, auf dem  europäischen Kontinent, in Zermatt oder im Vinschgau. Klar ist so was Geschmackssache und ökologisch erst mal zweifelhaft. Das Angebot mit einigen wenigen Flügen pro Jahr wird kontrovers diskutiert. Es ist aber zumindest umweltschonender als etwa ein Langstreckenflug zum Kajaken nach Patagonien oder zum Survival-Abenteuer in der Mongolei. Oder als ein Kurztrip nach Mallorca. Und natürlich gibt es die Möglichkeit, auch bei solchen Abenteuern die eigene Schadstoffbilanz auf Internetseiten wie Atmosfair oder Myclimate auszugleichen. Was einem die freiheitsliebenden Einwohner von Livigno aber gar nicht erst verraten.

Diese reizvolle Mischung aus zwei Träumen, dem vom Fliegen und dem vom endlosen Flow auf einem Mountainbike die wilden Hänge talwärts, ist was für die Ewigkeit. Noch dazu in einer derart entlegenen Region mitten in Europa. Manchmal beginnt das Heli-Biken aber auch erst malin zunehmender Dunkelheit an der Gipfelstation der Gondelbahn Carosello – mit einem »Night-Ride« auf dem Bike bis zu einem Schlafplatz an einem Aussichtspunkt namens Madonon, knapp 3000 Meter über dem Meer. Um dann am nächsten Morgen ein wenig talwärts zu reiten und erst von dort mit einem Helikopter auf den 3104 Meter hohen Monte Breva zu fliegen, einen Grenzberg zwischen Italien und der Schweiz, der gelegentlich auch Piz La Stretta heißt. Das Mountainbike ist als Luftfracht natürlich dabei. Vorausgesetzt, das Wetter passt. Was an diesem Abend nicht so aussieht. Eine Gewitterfront ist gerade durch, mit spektakulär düsteren Wolken und Hagel und Regen, und in der Ferne droht schon die nächste. Zum Glück sieht’s gerade für ein, zwei Stunden gut aus, und Sergio Ghezzi kurbelt mit einigen Begleitern nach oben, vorbei an einem kleinen Stausee, über teils felsige Pfade, ein paar Schneefelder und schmale, exponierte Trails. Hinter ihm ein Mix aus Wolkenwand und verglühender Sonne, unter ihm das Tal von Livigno. Sieht umwerfend aus, aber es muss ja weitergehen. Weiter rauf. Und oben? Zwei, drei der von Helfern aus Livigno aufgebauten Zelte…