DIE BOMBE

Sie nennen sie »Big Mama«: Vor dem kleinen Ort Nazaré wagen Surfer immer riskantere Ritte auf der höchsten Welle der Welt. Eine E-Mail brachte harmlos ins Rollen, was an der Atlantikküste Portugals zum Geschäft mit dem Nervenkitzel geworden ist

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TEXT: Marc Bielefeld / FOTOS: Ricardo Bravo

Unten an der Promenade vor der weiten Bucht hängt schon am frühen Morgen ein feiner Schleier salziger Gischt in der Luft, und unweit der Rua dos Banhos, gleich hinter der blau gekachelten Kirche am Meer, liegt André Santos in seinem Bett und erwacht langsam. Er geht in die Küche, kann die Brandung schon hören. Dann schnappt er sich sein Handy, schaut wie jeden Morgen in die Apps der Wellenvorhersagen. Santos betreibt den Surfshop hier in Nazaré, er ist einer der Locals der frühen Tage, und selbst wenn die Morgenschlagzeilen  vermeldeten, dass Trump den Mond bombardierte, würde ihn das im Moment weniger tangieren als eine perfekte Welle, die in der südlichen Bucht bricht oder sich womöglich am Praia do Norte erhebt.

Vor dem inzwischen berühmten kleinen roten Leuchtfeuer auf den Felsen kann sich das Meer zu »Bomben« hochschaukeln. Zu Wasserwalzen, die 20, 25, manche sagen sogar 30 Meter hoch werden können. Die kleine Stadt Nazaré am Atlantik, anderthalb Stunden nördlich von Lissabon, eine Disco, sechs Bars, 14 000 Einwohner, kennt diese unfassbaren Wellen, seit ihre Bewohner denken können. Seit die Fischer im wütenden Meer ertrinken und die heilige Mariaoben in der alten Kapelle Richtung Ozean blickt. Aber seit 2011 der Amerikaner kam und eine dieser Riesenrutschen aus rasendem Salzwasser das erste Mal leibhaftig surfte, ist Nazaré nicht mehr nur die Stadt der Fischer, der Ferienort am Meer. Seit dem Ritt des Garrett McNamara ist Nazaré berühmt geworden: als die Stadt mit denhöchsten Wellen der Welt am Praia do Norte.

Um halb neun steht André Santos unten am Strand und schaut unter seiner Daunenkapuze aufs Meer. Es nieselt bei neun Grad, der Morgen ist grau und schal. Gleich um die Ecke, hinter den großen Felsen, liegt der berüchtigte Spot, der Nazaré bisweilen in eine antike Arena verwandelt. In einen Ort der modernen Tragödie. Genau dort bricht sich an guten Tagen jene Welle, die sie nicht umsonst als ozeanischen Kanonenschlag bezeichnen, wenn sie denn kommt. Ein Abgrund aus Wasser. Schnell, chaotisch, unberechenbar. Garrett McNamara, der Großwellendompteur aus Hawaii, hat das Ungeheuer einmal so beschrieben: »Du nimmst die Monsterwelle von Jaws auf Maui, die Steilwände von Mavericks in Kalifornien und den Shorebreak von Waimea Bay auf Oahu, du setzt sie allesamt auf Steroide und wirbelst anschließend alles zusammen. Dann hast du in etwa die Welle von Nazaré.« Dass das Meer sich an dieser Stelle zu einer Gottgewalt erhebt, hat einen Grund. Direkt vor der Landspitze endet ein Tiefseegraben, der aus 4900 Meter Tiefe jäh auf den Kontinentalsockel trifft und die vom Ozean heranrollende Dünung wie einen Turbolader beschleunigt. Mit einer Wucht von 500 000 Tonnen brechen die Wassermassen am südlichsten Peak in sich zusammen und schlagen auf alles, was sich ihnen in den Weg stellt, mit gut und gern 1000 Kilonewton pro Quadratmeter ein. Das entspricht ungefähr dem Zehnfachen jener Kraft, die auf einen menschlichen Körper einwirkt, wenn dieser im Auto mit 100 km/h frontal gegen eine Wand fährt.

André Santos blickt aufs Meer. Er ist eigentlich Bodyboarder, mag Wellen bis vier, fünf Meter. Weil er das Revier jedoch sehr gut kennt und seit Jahren vor Ort lebt, arbeitet er inzwischen als Security Coordinator im Team von Sebastian Steudtner, Deutschlands bestem Big-Wave-Profi. Steudtner hat 2014 eine 22-Meter-Wand vor Nazaré gesurft, nun jagt er der 25-Meter Marke hinterher. Die Höhen der gerittenen Wellen lesen sich…