Schöner Schmerz
Foto: Kramon aus „Die Kunst des Leidens“
Text: Alexandra Turner
„Wo die Bedingungen schwieriger werden und das Leiden beginnt: Da werden die Geschichten, die ich mit meinen Fotos erzähle, erst interessant.“
Das Porträt ist verstörend: Ein Radhelm, in der Front zerborsten. Fetzen, ein blutüberströmtes Trikot, ein hochkonzentriertes Gesicht. Als Stefan Küng am 20. September 2023 das Ziel der 29,8 Kilometer langen Etappe von Emmen nach Emmen bei den UEC-Straßeneuropameisterschaften überquert, nimmt die Kamera seinen erschreckenden Zustand in der Frontale. Kurz zuvor war der zweifache Europameister schwer gestürzt. Profifotograf Kramon resümiert diesen Augenblick: „Im Radsport geht es darum, Grenzen zu überschreiten. Meistens kommt man zurück, manchmal aber auch nicht. Es ist Siegen oder Verlieren. Das ist das Schöne und die Gefahr. Man versucht, sich klein zu machen. Wer den Kopf hebt, bekommt mehr Zugluft ab, also bleibt der Kopf gesenkt. Stefan schaute zu spät auf, um die Absperrungen zu erkennen, die die Rennstrecke verengten. Auf der Ziellinie hörte ich, dass er gestürzt war. Ich hatte nicht erwartet, dass er ins Ziel kommt, aber plötzlich war er da. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich machte das Bild und fragte mich, ob ich es jemals zeigen könnte.
Dies sind die Grenzen, die Fotografen ausloten.“ Wer im kürzlich erschienen Bildband „Die Kunst des Leidens – von der brutalen Schönheit des Radsports“ bis auf Seite 231 vorblättert, findet den Shot – in eher kleinem Format. Fast beschämt. Andere Medien zeigen sich da ungenierter. Wer möchte, kann sich den Sturz noch heute als Video auf Eurosport ansehen. Solcherlei Unfallvoyeurismus ist jedoch nicht die Intention, die den Bildband leitet. Es geht nicht um Sensationslust, sondern Authentizität. Dass das Bild nicht größer gedruckt wurde, ist vermutlich schlicht damit zu begründen: Es ist nicht das beste im Buch. Weder der intimste, kraft- oder schmerzvollste noch der ästhetischste Shot. Das Motiv des blutüberströmten Radrennfahrers ist eher erschreckend banal. Versehrtheit und Schmerz, ja sogar der Tod, sie gehören zum Straßenradrennsport wie zu kaum einer anderen Disziplin.
Und so musste auch Küng, Jahrgang 1993, in seiner Karriere bereits einiges einstecken: 2015 stürzte er beim Giro d’Italia und brach sich einen Brustwirbel, bei den Schweizer Meisterschaften 2016 im Einzelzeitfahren das Schlüsselbein sowie das linke Becken und 2018 während des Rennens Paris–Roubaix den Kiefer. Es ist der Preis für den Erfolg. Das bestätigt auch die Geschichte von Rad-Superstar Wout van Aert. Sein Triumph-Moment, der wegen starker Muskelkrämpfe fast aussichtlos erschienene Sieg bei seiner ersten Teilnahme am regen- und schneeverödeten Strade Bianche 2018, ziert das Cover des Bildbandes. Dieses Foto, auf dem Kramon van Aert hinter dem Ziel am Boden liegend porträtiert – „wie der vom Kreuz abgenommene Christus“ – gewann 2018 einen Nikon Sports Press Award. Der Radprofi schreibt dazu im Vorwort des Bandes: „Fotos können trügerisch sein. Sie können den Eindruck erwecken, dass man stillsteht, obwohl man in Wirklichkeit mit 100 Stundenkilometern bergab fährt. Sie können ein äußerst grausames Rennen bezaubernd schön und friedlich aussehen lassen. Die Fotos, die ich mag, sind die, die dem Moment gerecht werden. Ich glaube, das Titelbild wird immer eines meiner Lieblingsbilder sein. Man kann den Schmerz wirklich sehen und fühlen, und das macht mich stolz. Wenn ich im Ruhestand bin und meine Kinder mich fragen, wie es war, als ich Rennen fuhr, kann ich dieses Buch aufschlagen und es ihnen zeigen.“ Es ist bitter, diese Zeilen heute zu lesen, denn als er sie schrieb, wusste der belgische Ausnahmeathlet noch nicht, dass er sich im Frühjahr 2024 bei einem Massensturz (…)
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