IM VERWUNSCHENEN LAND

Die nordalbanischen Alpen gehören immer noch zu den unbekanntesten Regionen Europas. In den Bergen leben »eingeschworene Jungfrauen«, es herrscht das Gesetz der Blutrache und überall lauern Schurken – jedenfalls laut Karl Mays

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TEXT: Maik Brandenburg / FOTOS: Dimitrij Leltschuk

Albanien! Man hatte uns gewarnt: Das geht nicht gut! Man müsse nur mal bei Karl May nachlesen. Dort hausten finstere Gestalten mit -»rohen Bulldoggengesichtern«, grausam und rachsüchtig. Ihre -Bärte sind so lang wie ihre Dolche, wehe, man passt nicht auf! Dann überwältigen sie einen im Schlaf, fesseln und -erschlagen dich kurzerhand. 

Mit mulmigen Gefühlen brachen wir also auf. Unser Weg begann in der Stadt Tropoje, von dort wollten wir in drei Tagen durch die albanischen Alpen, rund 70 Kilometer über einen Pass bis auf 2000 Höhenmeter. Wir gingen zuerst über kiesige Wege, staubige Pfade, die steil bergan führten. Bald kamen wir vorbei an weißen Häusern, in deren Gärten bunte Teppiche aus Äpfeln und Pflaumen lagen. Ich hob einen Apfel auf, drehte mich um und sah in das Gesicht eines alten Mannes. Er hatte ein Messer im Gürtel. Mit seinem langen Stock holte er aus. Aber nicht, um zuzuschlagen. Mit freundlichem Lächeln wies er auf sein Haus. Es war die Einladung, einzutreten.

»Nennt mich Onkel«, sagte der Alte, »ich bin 87 Jahre alt, aber ich schüttele die Bäume noch.« Er lachte, eine Frau brachte Tee. Ein Bild zeigte eine schöne junge Frau mit Kopftuch. »Ist das Ihre Frau?«, fragte ich. Der Alte haute mit seinem Stock auf den Boden: »Seit wann kann denn eine Frau eine Frau heiraten?«

Ich verschluckte mich fast am Tee, der wie eine ganze Bergwiese roch. Der Mann vor mir – war gar keiner! Sein, ihr Name war Hajdar Bardhi. Er war eine Burnesha, eine »eingeschworene Jungfrau«. Als er fünfzehn Jahre alt war, starb der Vater, wenig später der Bruder. Damit war kein Mann mehr im Haus. Hajdar, der damals noch Fatime hieß, schnitt sich die Haare ab. Er zog sich Männer-kleidung an und schwor, niemals zu heiraten. Von nun an galt er als Mann. Er durfte in die Kneipen, er durfte auf der Straße rauchen, er trug ein Gewehr über der Schulter. Vielleicht ein paar Dutzend Burneshas gibt es noch in Nordalbanien. Sie sind Busfahrer, Landarbeiter, Lehrer. -Hajdar ging auf den Bau, das Geld schickte er nach Hause. Verzeih, Hajdar, was bis du denn jetzt – ein Mann oder eine Frau? »Ich bin das Oberhaupt der Familie«, rief der -Alte und haute mit seinem Stock auf den Teppich, dass die Tassen klirrten.

Mit der Tasche voller Äpfel gingen wir weiter. Der Pfad führte dicht an Felswänden entlang, bald sahen wir weit unter uns die Wipfel des Wäldchens, das wir vor Stunden durchquert hatten. In Schluchten gurgelte das Wasser, das Echo hallte von den Felsen. Wir gingen nach Norden, immer -tiefer in die »Verwunschenen Berge«. So heißen die nordalbanischen Alpen, jene -Gegend, die Karl May so furchterregend -beschrieb. Warum sie verwunschen sind? Zu früheren Zeiten traute sich kaum jemand hinein. Zu hoch schienen die Berge, zu verschlungen die Wege, zu dunkel die Wälder.  

Wir umgingen scharfkantige Vorsprünge, zogen die Köpfe unter -Felsnasen ein. Die Spalten des -Gesteins waren breit, ein leichtes Versteck für übelwollende Gesellen. Unsere Schritte wurden schneller, der Atem flacher, war es schon Angstschweiß auf der Stirn? Ach, man sollte halt nicht Karl May lesen vor so einem Trip.

Irgendwann weitete sich der Pfad, Wiesen taten sich auf. Die Felsen waren noch da, doch Blüten und Moos bedeckten sie. Terrassenartig stiegen die Berge auf. Felder darauf mit hellbrauner, krümeliger Erde. Dazwischen bunte Flecken – Gärten. Wellblechhütten standen darauf, die -Obstbäume wuchsen hart am Abgrund, als sagten sie den Blumen: bis hierher und nicht weiter! In einer Sommerhütte für Hirten kochte Mereme Trazhnjeva ein Hühnchen über einem Feuer aus…